Meldungen aus dem Bezirksverband Münster
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Kriegsgefangener in Odessa

Heeker Familie nimmt nach 75 Jahren Abschied vom vermissten Vater

Heek. Seit 1944 galt Anton Gesenhues als vermisst, er kehrte nie von der Ostfront zurück. Nach 75 Jahren hat seine Familie nun die Grabstätte in Odessa ausfindig gemacht und Abschied genommen.

Das letzte Lebenszeichen von Anton Gesenhues stammt vom 3. August 1944. Mit einem Feldpostbrief meldet sich der in der Sowjetunion stationierte Soldat ein letztes Mal. Seiner Familie schreibt er, sie möge sich gut um seinen gerade geborenen Sohn Wilhelm kümmern, den er nie zu Gesicht bekommt. „Wenn ich die Briefe lese, kommt alles wieder hoch“, sagt Johanna Leusbrock (80).

Fast ihr ganzes Leben hat sie nach ihrem Vater gesucht. Vor 75 Jahren wurde er als vermisst gemeldet, irgendwo in der heutigen Ukraine. Immer wieder schrieb sie den Suchdienst des Deutschen Roten Kreuzes an. „Ich hatte das ganze Leben einen Gedanken. Ich wollte wissen, wo er ist“, sagt die 80-Jährige.

Letzte Verabschiedung am Bahnhof Nienborg-Heek

Sie war dabei, als ihr Vater sich am Bahnhof Nienborg-Heek ein letztes Mal von der Familie verabschiedete. Die Tragweite war ihr damals nicht bewusst. „Für uns Kinder war er nur ein fremder Onkel.“ Seinen Vater nie gesehen hat ihr Bruder Franz Gesenhues (77). „Meine Mutter hat mir später vom Tag des Abschieds erzählt“, sagt er. Sein Vater habe nur geweint und angekündigt: „Ich komme nie wieder nach Nienborg.“

Nach Kriegsende blieb Anton Gesenhues vermisst. „Es war immer schwer für mich, dass ich meinen Vater nie kennengelernt habe“, sagt Franz Gesenhues. Die Ungewissheit über seinen Verbleib quält ihn. Es dauert 60 Jahre, bis die Familie vom Schicksal des Vaters erfährt. „An meinem Geburtstag 2004 kam plötzlich ein Brief“, berichtet Johanna Leusbrock. Der Suchdienst hatte nach Öffnung alter Archive erfahren, wann und wo ihr Vater verstorben war: Im Dezember 1944, irgendwo in der heutigen Ukraine.

Massengrab mit 1600 Kriegsgefangenen

​Doch es sollte weitere 15 Jahre dauern, bis die Familie erfährt, wo er begraben liegt. Enkel Winfried Leusbrock nimmt sich der Sache im vergangenen Jahr an. Mit seinem geowissenschaftlichen Ingenieurbüro kommt er in Kontakt mit dem Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge, für den er ehrenamtliche Projekte umsetzt. Im Gegenzug bittet er um einen Gefallen: Endlich soll die Familie einen Ort bekommen, an dem sie Abschied nehmen kann.

Mithilfe des Volksbundes fordert er Akten aus der ehemaligen Sowjetunion über die deutschen Kriegsgefangenen an. Er erfährt, dass sein Großvater im Gefangenenlager Nummer 159 in Odessa festgehalten wurde. Am 7. Dezember 1944 starb Anton Gesenhues mit 38 Jahren im Lazarett. „Dystrophie“ steht in der Akte als Todesursache vermerkt – Ernährungsmangel. Es war die häufigste Todesursache im Lager, in dem viele tausend Soldaten gefangen gehalten wurden.

60 bis 70 Prozent starben durch Unterernährung, schreibt der Suchdienst des Deutschen Roten Kreuzes in einem Bericht über das Lager. In Steinbrüchen und Fabriken mussten die Gefangenen arbeiten. Betrieben wurde das Lager mindestens bis 1950. Bestattet wurden die Toten in Massengräbern. 1600 Kriegsgefangene liegen auf dem Friedhof, der inzwischen vom Volksbund gepflegt wird.

„Ich habe immer gebetet, dass ich einmal die Gelegenheit bekomme.“ ​

Für die Familie bedeutet es, dass sie Abschied nehmen kann. In der vergangenen Woche machen sich Winfried Leusbrock und Franz Gesenhues, Letzterer begleitet von seiner Frau Hedwig und seinen Söhnen Frank und Reinhard, auf den Weg an die Schwarzmeerküste. Johanna Leusbrock fährt nicht mit. „Mit 80 Jahren diese Aufregung ist einfach zu viel“, sagt sie. Dennoch ist sie erleichtert, endlich Gewissheit zu haben: „Das war wie eine Befreiung.“

Auch ihrem Bruder Franz Gesenhues fällt die Reise schwer. Er erholt sich gerade von einem Schlaganfall. Doch die Gelegenheit zum Abschied will er sich nicht nehmen lassen. „Ich wollte unbedingt dahin“, sagt er. „Ich habe immer gebetet, dass ich einmal die Gelegenheit bekomme.“ Auf dem Friedhof bricht er fast zusammen. „Da denkt man ganz anders. Aber jetzt weiß ich endlich, wo mein Vater beerdigt ist.“ Auch Winfried Leusbrock berührt der Abschied nach 75 Jahren: „Es war sehr ergreifend. Das geht an die Psyche.“

„Und wie viele liegen noch irgendwo begraben?“, fragt Johanna Leusbrock. Noch heute gelten mehr als eine Million Deutsche als vermisst. Die Briefe ihres Vaters bewahrt Johanna Leusbrock als Andenken auf. „Die sollen für die Nachkommen erhalten bleiben“, sagt sie. Sie sollen auch als Warnung dienen. Denn der Krieg kennt keine Gewinner. Auch mit den Gräueltaten der Wehrmacht hat sie sich auseinandergesetzt. „Das ist doch schrecklich“, sagt sie und kommt zu dem Schluss: „Das darf nie wieder passieren.“

Text: Falko Bastos (Münsterland Zeitung)