Ahaus. Riga. Im Mai begaben sich Schülerinnen und Schüler der Europa-AG des Alexander-Hegius-Gymnasiums (AHG) und eine Gruppe von Bürgerinnen und Bürgern aus Ahaus auf eine sechstägige Studienflugreise nach Riga. Die Fahrt wurde von der Europa-AG und dem aktuellen forum Volkshochschule unter der Leitung von Ingeborg Höting (VHS Ahaus) und Patrick Spell (AHG) organisiert und durchgeführt. Anlass der Reise war der anstehende Beitritt der Stadt Ahaus zum Deutschen Riga-Komitee.
Die Aufgabe des vom Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge initiierten Städtebündnisses ist es, an das Schicksal von über 25.000 deutschen Juden zu erinnern, die vom November 1941 bis zum Winter 1942 aus dem Gebiet des damaligen Deutschen Reiches in ca. 28 Transporten in den baltischen Raum, in erster Linie nach Riga, deportiert wurden. Im Rahmen der nationalsozialistischen „Endlösung der Judenfrage“ wurden sie grausam gequält und ermordet, u.a. im Ghetto von Riga und in ihrer überwiegenden Zahl im Wald von Bikernieki.
Für die Teilnehmer der Studienreise waren es sehr bewegende Momente, als sie sich in Riga auf die Spuren der aus Ahaus stammenden jüdischen Familien begaben. Die ersten Stationen lagen im Umfeld der lettischen Hauptstadt. So ging es zunächst zum Bahnhof Skirotava, dem damaligen Güterbahnhof. Hier kam im Dezember 1941 der erste Deportationszug aus Westfalen mit insgesamt 1012 Juden an. Vom Bahnhof aus brachten SS-Posten die Überlebenden des Transportes auf einem langen Fußmarsch ins Ghetto Riga. Weitere Stationen waren die Gedenkstätte im Wald von Rumbula, wo nahezu 25.000 lettische Juden erschossen wurden, um im Ghetto Platz für die Anfang Dezember 1941 ankommenden deutschen Juden zu schaffen und die Gedenkstätte Salaspils. Einem Arbeitserziehungslager, das unter unmenschlichen Arbeitsbedingungen von aus dem Deutschen Reich deportierten jüdischen Männern im Winter 1941/42 errichtet wurde. Letzte Station im Umfeld von Riga war die Gedenkstätte im Wald von Bikernieki. Während der nationalsozialistischen Besatzungs- und Terrorherrschaft in Riga (Juli 1941 bis Oktober 1944) war der Wald ein zentraler Erschießungsort. Vorsichtig geschätzt sind ca. 35.000 Menschen im Wald von Bikernieki erschossen und verscharrt worden, unter ihnen ein Großteil der Juden aus dem „Großdeutschen Reich“, die nach der Deportation im „Reichsjuden“-Ghetto von Riga interniert waren (ca. 11-12.000).
Anlässlich des geplanten Beitritts der Stadt Ahaus zum Deutschen Riga-Komitee stand der Besuch dieser Gedenkstätte im Mittelpunkt der Studienreise. Im Rahmen einer Gedenkstunde verlasen die Teilnehmer der Ahauser Delegation die Namen von jedem der 22 ermordeten jüdischen Mitbürger und legten eine Blume zum Gedenken nieder. Ingeborg Höting erinnerte an die ermordeten Menschen, indem sie ihre Biografien und Familiengeschichten skizzierte und dabei Bilder von ihnen zeigte. Sie gab damit den Opfern des Nationalsozialismus ihr Gesicht zurück.
Die nächsten Stationen der Spurensuche befanden sich in der Stadt selbst. Auf dem Weg zur „Moskauer Vorstadt“, wo sich während der NS-Herrschaft das ehemalige jüdische Ghetto befand, war die nächste Station die Große Choral Synagoge. Kurz nach dem Einmarsch der deutschen Wehrmacht im Juli 1941 starben in dieser Synagoge ungefähr 400 Juden, darunter viele Flüchtlinge und Kinder. Lettische Nationalisten hatten sie in die Synagoge getrieben, die Türen mit Brettern vernagelt und anschließend das Gebäude in Brand gesteckt. Mit diesem Massenmord begann in Riga eine Welle von Pogromen, denen Hunderte weitere Juden zum Opfer fielen. Gleichzeitig beschlossen die deutschen Besatzer in der so genannten „Moskauer Vorstadt“ ein Ghetto zu errichten. Im Oktober 1941 lebten dort auf engstem Raum 30.000 Juden. Das Areal des ehemaligen jüdischen Ghettos mit seinen alten Holzhäusern im russischen Stil ist bis heute erhalten und gilt als das einzig fast komplett erhaltene jüdische Ghetto Europas. Die Menschen dort wohnen in denselben Gebäuden, wo damals die Juden lebten. Der Besuch des ehemaligen Ghettos von Riga vermittelte den Teilnehmern einen deutlichen Eindruck vom Leben im jüdischen Ghetto. Anhand eines alten Stadtplans konnte auch das Haus ausfindig gemacht werden, indem die jüdischen Mitbürger aus Ahaus untergebracht wurden.
An der Grenze des ehemaligen Ghettos liegt im historischen Teil der Stadt das Rigaer Ghetto-Museum. Auf dem mit Pflastersteinen von den Rigaer Ghetto-Straßen gepflasterten Grundstück sind Stände mit den Namen der 70.000 ermordeten lettischen und annähernd 20.000 deutschen nach Riga deportierten Juden. Unter ihnen fanden sich auch die Namen der aus Ahaus stammenden jüdischen Mitbürger. Darüber hinaus gibt es dort eine Fotoausstellung, die der antisemitischen Propaganda, dem Holocaust in Lettland, der Widerstandsbewegung und den Rettern von Juden gewidmet ist, zu sehen. Um sich ein umfassenderes Bild von der Geschichte der Juden in Lettland zu machen, begaben sich die Teilnehmer zum jüdischen Museum, das sich im historischen Gebäude der jüdischen Gemeinde in Riga befindet. Vor der lettischen Besatzung durch die Nazis befanden sich dort der jüdische Club und das Theater. Das Museum wurde von einer Gruppe von Holocaust-Überlebenden unter der Leitung des bedeutenden Historikers Margers Vestermanis im Jahr 1989 gegründet. Professor Vestermanis, der als Jugendlicher im Ghetto von Riga interniert war, führte die Teilnehmer durch die Dauerausstellung des Museums, die aus drei Teilen besteht. In einem einführenden Vortrag ging er zunächst auf das soziale, wirtschaftliche, politische, geistige und religiöse Leben, sowie dem rechtlichen Status des Judentums in Lettland ein. Anschließend begann die Führung durch die Ausstellungsräume. Der erste Teil der Ausstellung beginnt mit der Frühzeit der lettisch-jüdischen Geschichte im 16. Jahrhundert und endet 1918. Die vier Jahrhunderte waren geprägt von den Machtansprüchen der Nachbarmächte. „Die jahrhundertelang andauernden militärischen Auseinandersetzungen der Rivalen und die ständigen Wechsel der fremden Herrscher hielten die Menschen und insbesondere die Juden in ewiger Unruhe“, so Vestermanis. Der zweite Teil widmete sich der Zeit der ersten Republik Lettlands (1918-1940), in der die jüdische Gemeinschaft regelrecht aufblühte. Der dritte Raum ist den tragischen Ereignissen des Holocaust auf dem lettischen Gebiet gewidmet. Ein Kapitel ist den Ehrentaten von lettischen Bürger verschrieben, die die komplette Auslöschung des Judentums in Lettland verhinderten. Am Ende war die Gruppe tief beeindruckt von den anschaulichen Ausführungen zum jüdischen Leben und dankbar, dass sich Professor Vestermanis trotz seines fortgeschrittenen Alters drei Stunden Zeit für sie genommen hat.
Mit ihrer Reise in die Vergangenheit haben sich die Teilnehmer bewusst der Vergangenheit gestellt, um zu gedenken, aber auch um daran zu erinnern, dass ein freiheitliches demokratisches System ein kostbares Gut ist. Angesichts der aktuellen Ukraine-Krise, die von vielen Letten als reale Bedrohung wahrgenommen wird, ist zudem deutlich geworden, dass die bloße Erkenntnis hier nicht ausreichend ist. Es wird Zeit, da waren sich alle Teilnehmer einig, dass man sich in Europa nicht nur zu den europäischen Werten wie Demokratie und Freiheit bekennt, sondern anfängt, sie zu leben.