Opfern Gesicht und Stimme geben - Es waren einzelne Momente einer eindrucksvollen Beitrittsfeier, die unter die Haut gingen.
Als Lucette van den Berg ein jüdisches Liebeslied anstimmte, das eine Opernsängerin auf dem Weg in die Gaskammer gesungen hat. Als die Historikerin Ingeborg Höting den aus Stadtlohn stammenden Riga-Überlebenden Max Meyers zitierte: „Ich überlebte nicht. Ich sitze hier nur.“ Oder als Realschüler in fiktiven Dialogen die Gedanken der 1941 aus Gescher deportierten und ermordeten Juden lebendig werden ließen.
Seit Dienstag ist die Stadt Gescher offiziell das 49. Mitglied im Deutschen Riga-Komitee.
Regierungspräsident Professor Dr. Reinhard Klenke überreichte die Beitrittsurkunde an Bürgermeister Hubert Effkemann. Von Jürgen Schroer Über 150 Gäste verliehen der Feier im Rathaus einen würdigen Rahmen. „Mit Ihrer Teilnahme setzen Sie ein Zeichen gegen das Vergessen“, sagte Effkemann in seiner Begrüßung.
Allein aus Gescher seien es mindestens 20 Personen aus vier Familien gewesen, die am 10.12.1941 ins jüdische Ghetto von Riga deportiert und dort später grausam getötet und im Wald verscharrt wurden. Die Feier möge dazu beitragen, die Erinnerungskultur in Gescher weiter zu entwickeln. Seinen Dank an alle Mitwirkenden verband Effkemann mit dem Hinweis auf die Ausstellung des Volksbundes Deutsche Kriegsgräberfürsorge e.V. „Riga-Bikernieki. Wald der Toten“, die bis zum 13. Juni im Rathaus zu sehen sei.
Warum heute erinnern? Veronika Hüning, Mitglied der Initiative für den Beitritt der Stadt Gescher zum Riga-Komitee, gab die dreifache Antwort: Verantwortung übernehmen, Lernen aus der Vergangenheit, die Würde der Opfer achten. Verantwortung bedeute: Sich dem Schatten der Geschichte des deutschen Volkes stellen – „auch ganz ohne persönliche Schuld“. Hüning: „Wir wünschen uns, dass die junge Generation ein Gespür entwickelt für die zersetzende Wirkung von Vorurteilen und rassistischer Propaganda, dass sie erkennt, wie verführbar wir Menschen sind und wie schwer Zivilcourage ist.“ Und ein weiterer Kerngedanke: „Wir gedenken der Opfer um ihrer selbst willen.“ Jeder Mensch sei dies wert, so Hüning. Niemand dürfe dem „zweiten Tod“ anheim fallen, dem Vergessen. Vom Erinnern und Vermissen handelten auch die Vorträge der Realschüler Vanessa Wencke, Sebastian Ameling, Rosa Kayila und Anna Paskert. In fiktiven Texten ließen sie jene „Menschen von nebenan“ lebendig werden, die bis 1941 in Gescher verwurzelt waren und dann entrechtet, verschleppt und ermordet wurden. Einen weiteren Akzent setzten Realschüler mit einer Kunstaktion unter der Leitung von Robert Nellissen – sie verteilten Handdrucke mit Elementen aus Gescher und Riga. Dunkle Schienen, die in den Tod führen...
Höhepunkt der Feier war die Unterzeichnung der Beitrittsurkunde. Klenke erinnerte daran, dass 1941/42 insgesamt 25.000 jüdische Bürger nach Riga verschleppt und fast alle dort umgebracht wurden. „Es waren Menschen wie wir, denen das angetan wurde“, sagte der Regierungspräsident. Das Böse sei nie ganz besiegt. Es sei wichtig, den Opfern ein Gesicht und eine Stimme zu geben – das sei gerade den Schülern in dieser Beitrittsfeier gelungen. Klenke trug sich auch in das Goldene Buch der Stadt Gescher ein.